„Emergency Break“
von Kurator Dirk Großer
20 Prozent der Bevölkerung verbrauchen 80 Prozent der natürlichen Ressourcen dieser Erde. Das ist das Ausgangsszenario der Ausstellung „Emergency Break“ in der Albrechtsburg Meissen, die die Begegnung von ca. 30 sächsischen Künstlern, dem Schloss als Ausstellungsort und die thematische Ausrichtung zur aktuellen Situation während des Corona-Lockdowns, glückliche Koinzidenz nennt.
Wir gehen von einem hypothetischen Zustand aus, was wäre wenn wirtschaftlicher Stillstand herrschte und wir hätten plötzlich mehr Gehör für die Stimmen der Vögel und wachere Sensoren für den Umgang mit den natürlichen Ressourcen unserer Erde: Wasser, Luft, Lebensraum (…) Glück?
Eine Status Quo-Abfrage erfolgte 2019 zur Vorbereitung dieser Ausstellung „Emergency Break | Notbremse“ und noch einmal 2020, als Corona auf der Weltbühne auftauchte.
Mit Corona ist die Welt zu einer Bühne geworden, zum Theater, weil mit diesem Kontext die Besinnung auf unsere gesellschaftlichen Grundwerte und natürlichen Ressourcen der Erde erfolgte und weil sich nach den Prognosen vom ewigen Wirtschaftswachstum, unbegrenzter Mobilität mit dem Stillstand, ein Paradigmenwechsel anbieten würde. Weg vom Wachstumstenor hin zur Wertschätzung unserer natürlichen Ressourcen als Lebensqualität und vor allem zu einer alternativen Lebensweise die nicht im Konsumrausch kickt.
Die Arbeit von Frenzy Höhne „Drohendes Glück, Nachhaltigkeit“ zeigt in ihrer Begriffsreihung aus Werbeslogans auf, dass alle Werte unserer Gesellschaft von Marktgebärden kontaminiert sind und die zugrundeliegende Inhalte inflationär behandelt werden.
Das klingt so: JETZT MITMACHEN! / Zusammen / verändern wir die Welt. / Wein trinken, Boden retten / Haare waschen ohne Plastikmüll. / MEHRWEG KAUFEN + KLIMA SCHÜTZEN / Bereit für / unsere / NATURAKTIONSTAGE / Akzente setzten / FÜR WENIGER PLASTIK IN DER UMWELT / ! / NUR BEI UNS / Erleben Sie / Leidenschaft für / NACHHALTIGKEIT / DIE SICH / FÜR SIE! / lohnt / MACHEN SIE MIT! / aus Plastikmüll wird Geld und ein Geschenk für die Natur / EINE KLASSISCHE WIN-WIN-SITUATION.
Die Ausstellung „Emergency Break“ ist auch eine Inszenierung. Sie wird prozessual erweitert.
Wir bieten einen symbolischen Raum des Diskurses an. Momentan sind das Kunstwerke, eine reale Ausstellungssituation und eine virtuelle Präsenz im Internet. Der Diskurs wird die Ausstellungslaufzeit virtuell überdauern und im Netz fortgesetzt werden.
Corona, das ist die Generalprobe zum Klimakollaps, führt uns vor Augen, dass der ganze Konsumzirkus, das Hamsterrad der Markttreiber einfach heruntergefahren werden kann. Weder die absolute Mobilität noch das Diktat der Arbeit sind unabdingbar.
Wir stellen fest, dass viele Manager kapitaler Unternehmen absolut überflüssig sind. Schon jetzt ist klar, es braucht nur ein paar Videokonferenzen um das Weiterlaufen zu sichern. Das Wohlstandsgetriebe um Milton Friedman hat sich als Irrtum erwiesen. Von der Diktatur des Marktes, die uns zu Marionetten macht, hin zu mehr Lebensqualität war einer der Ansätze dieses Projektes.
Das signalisiert auch die Arbeit von Jonas Leweck, der mit „Recht auf Faulheit“ eine Start-Next-Kampagne eröffnet hat, wobei er sich die Alternative zur Notbremse „nichts tun“ bezahlen lässt. Absurderweise wird dieses Vorgehen hier als Lösung vorgestellt, da es Einkommen generiert und keinen Schaden anrichtet.
Um Umverteilung geht es auch in dem Werk „Dear Jeff“ von Annika Stoll. Die in einem Leuchtkasten präsentierte Arbeit ist der Screenshot einer E-Mail von ihr an Jeff Bezos, den Gründer und CEO des Online-Versandhandels Amazon. Der Text in Form eines Liebesbriefes beinhaltet die Bitte der Künstlerin, ihr eine Million Dollar zu überweisen.
Die Kunst lädt sich an gesellschaftlichen Spannungsfeldern auf und zeigt oft Formen des Scheiterns, weil ihr das Instrument zur Einforderung von Resultaten fehlt. Sie stellt lediglich Bühnen für neue Verhandlungsebenen auf.
Simon Rosentals Objekte „Über die Unmöglichkeit von Revolution in der Kunst“ handeln davon, dass viele Ursachen für das Scheitern von gesellschaftsprägenden Interventionen bereits im Wesen der Sache selbst begründet sind. Für die Kunst attestiert das, dass hier der Hammer möglicherweise zu klein ist, es fehlt an Schlagkraft oder der Schutzmantel (wie Simon Rosenthals Warnweste aus Papier zeigt) ist zu fragil, um wirksam Widerstand leisten zu können.
Die Formation „Jetzt“ imitiert nur den Impuls revolutionärer Aufbrüche in ihren Aktionen und verbreitet diesen Schriftzug ohne Vergangenheitslast und Zukunftsansprüche als Motor.
Befeuert wird diese Situation von der Skulptur „Glut“ von Steffen Schiemann, Mixedmedia und auf Rollen gestellt.
Die Kunstwelt sagt was oben ist, ist oben und meint die ihr innewohnende Hierarchie. „Das einzige System, das ich kenne, bin ich“, so Christoph Schlingensief. Milo Rau, Theatermacher und Dokumentarfilmer, meint über die Möglichkeiten des Reenactments, dass bestimmte systemimmanente Bedingungen wie das Wachsumsparadigma der Wirtschaft nicht zu ändern seien. Dafür brauche es keine Verantwortung, nur ein gründlicher Neustart schaffe Abhilfe und ich sage, das System gibt es nicht, es ist lediglich eine Annahme über eine Funktionsweise, die nicht den hellsten Köpfen recht gibt.
Das Problem der Kunst sei, so hat Theodor W. Adorno festgehalten, dass sie sich mit Themen und Dingen befasse, die sie mit ihren eigenen Mitteln nicht zu lösen vermag (vgl. Adorno 1959, S. 97f). Unter diesem Verständnis muss sich Kunst scheinbar darauf beschränken, politische Realitäten aus gemessener Distanz zu kritisieren.
Heute scheint es von unserem Standpunkt aus sinnlos, über die Zweckfreiheit der Kunst einen Diskurs zu führen. Wir Künstler sind genauso wie andere Bevölkerungsgruppen kaum noch in der Lage, uns von den tatsächlichen Schauplätzen dieser Welt zu distanzieren. Kunst schafft zwar Distanz zu den Ereignissen, aber sie findet zuweilen und immer mehr in einem Krisengebiet statt. Dann gewinnt die Aussage von Milo Rau, der sagt „Widerstand = Überleben“ an Bedeutung. Der ganze Kunstdiskurs ist diesen Weg gegangen, von den kosmischen Zusammenhängen von Mensch und Natur zur schönen Erbauung, über die Bewusstseinsebene zur Sprache und schließlich zur Kontextualisierung. Die ersten Höhlenzeichnungen sind Zeugnisse der Einheit von Mensch und Natur, sie zeigen Mischwesen, ihre Einbindung in eine Gemeinschaft, und stellen den Menschen in einen kosmischen Zusammengang.
Kunst muss permanent Widerstand leisten, bewegen, reinternalisieren und Zuständigkeiten herstellen. Die Bühne errichten, auf der neu verhandelt werden kann. Es müssen Institutionen gebildet werden, die funktionieren. Für die Kunst hieße das, diese Institutionen müssten aus der Kunst heraus entstehen und von der Kunstwirklichkeit ausgehen.
Das „Zentrum für politische Schönheit“ ist eine Organisation der Kunst, die in der Lage ist, auf gesellschaftliche Missstände wirksam zu reagieren und Lösungen zumindest theatralisch einzufordern. Milo Rau gründete die „School Of Resistance“, wo Maßnahmen für eine bessere Welt verhandelt werden.
Der Neue Sächsische Kunstverein hat mit seiner Umstrukturierung Beweglichkeit herstellt, um projektbezogenes Arbeiten mit maximaler Vernetzung zu aktuellen Themen von Kunstbetrieb und Gesellschaft durchführen zu können.
Das filmische Portrait „50 Uhr“ von Frank Wallburger widmet sich den Lebensstationen der von bipolaren Ausschlägen geprägten Persönlichkeit Mathias Kornetzky, den bipolaren Ausschlägen von Mensch und Gesellschaft. Matthias Kornetzky spielte bei der Abwicklung der Staatssicherheit der ehemaligen DDR eine wesentliche Rolle. Die Stationen werden von verschiedenen Künstlern nach der Methode des Reenactments inszeniert und interpretiert.
Laut Lutz Dammbeck reichte die akademische Bildfindung vom Farbfleck ausgehend, seinerzeit nicht mehr aus, um angemessen auf die Wirklichkeit reagieren zu können. Erdem Gündüz “The Standing Man” sagt „I simply believe in individual actions“. Er stellte sich allein in einer neunstündigen Huldigungsandacht vor einem Denkmal von Attatürk auf. Der Einzelne als Gleichnis, als Symbol des aktiven Widerstands, des stillen Protests.
Kunst rettet die Welt!
Der stille Protest der Werke in Quarantäne zeigt, dass es weder an Kunst noch an ihrer Wahrnehmung in dieser Zeit fehlt. Es fehlt an Visionen, an neuen Formaten, an der Bereitschaft, die Gesellschaft neu zu denken und neu zu begreifen, als schöpferischen Prozess, als Möglichkeit der Teilhabe oder des Mitgestaltens an neuen Räumen.
„Die Pest“ von Albert Camus lehnt sorgfältig arrangiert neben anderen Gegenständen der Installation „Corona Altar“ von Jascha Wolfram. Die Installation fragt: Was braucht der Mensch wirklich? Eine neue Interpretation des Decamerone von Boccacio wahrscheinlich nicht. Der Installation zufolge benötigten wir eingangs vor allem mehr Klopapier. Tatsächlich benötigt werden Alternativen zum Stillstand, Sinnstiftungen. Das bietet die Ausstellung wirklich.
Die Räume der Ausstellung: Versuchsfeld Mensch, 50 Uhr, Recht auf Faulheit, Botschaften, Positiv/negativ und Nachbarschaften sind Angebote. Sie eröffnen neue Handlungsräume. Begleitend werden Filme und Interviews auf emergencybreak.de publiziert.
Das Werk „Blind 1“ von Rainer Jacob stellt einen neuen Raum zur Disposition und die dazugehörigen Regeln.
Kunst muss ihre eigenen Gesetze machen!
Rainer Jakob hat die Sandsteinskulptur im Inneren des Kubus aus Linolschnittplatten mit verbundenen Augen geschaffen. Er hat sie selber nie gesehen und verlangt die Wahrung ihrer visuellen Unschuld auch von ihren Besuchern. Die Skulptur darf niemals gesehen, nur ertastet werden. Andernfalls wird sie zerstört. In dieser Arbeit spielt Rainer Jakob mit geläufigen Wahrnehmungsmustern und zeigt, dass gerade durch das Verlassen gängiger Formate, die Funktionsweisen von Kunst sichtbar werden.
Andere Arbeiten von „Emergency Break“ können als Botschaften gelesen werden, so die Texte von John Sauter, Undine Materni, Claudia Grande, Frieder Zimmermann, die von den Autoren selbst gelesen und zum Teil auch neu interpretiert werden. Sie laufen über einen Monitor als Videosequenz.
Hartmut Kiewert´s Gemälde „No cars go“ zeigt Mensch und Tier sitzend auf einer Flugzeuglandebahn. Nach dem Zusammenbruch gesellschaftlicher Strukturen entstehen neue soziale Gefüge, noch frei von Nutzkonzepten und hierarchischen Strukturen.
Bei Christian Manns wird aus der Zukunftsperspektive eine Erinnerung inszeniert. Sein Collagen-Gemälde „Als wir uns am Wadi-Elbe im Schatten der Brücke trafen“ zeigt das ausgetrocknete Flussbett der Elbe als Weidegrund für Schafe.
Der Schriftzug „WIR“ erstrahlt in Leuchtbuchstaben blau, rotund grün. Sie entstammen unterschiedlichen Kontexten, verschiedener Herkunft. Dazu steht ein hochgemauertes Siegerpodest als Teil dieser Installation. Das „Wir“ wird gesellschaftlich immer wieder eingefordert und ist leider kaum durchführbar oder denkbar ohne die sofort stattfindende Kontamination durch irgendeinen Wettbewerb.
In der finalen Installation der Ausstellung wird ein Boot gebaut. Es wird mit den Botschaften der beteiligten Künstler ergänzt und verpackt. So wird es notariell beurkundet der Nachwelt übereignet und verabschiedet. Im Folgenden steht es der Kunstwelt nur noch im verpackten Zustand zur Verfügung. Das Werk ist dann in dieser Konsequenz ein verpackter Gegenstand, die dazugehörige notarielle Beurkundung und eine Videoaufzeichnung dieser Installation.
Botschaft ist: jede Stimme zählt.